Dienstag, 2. Juli 2013

"Vermittlung bitte"

"Vermittlung bitte!" (von Paul Villiard)

Als ich noch klein war, hatten meine Eltern als eine der ersten Familien am Ort ein Telefon. Ich weiß noch genau, wie der hölzerne Kasten aussah, der unter der Treppe an der Wand angebracht war. Der glänzende Hörer hing an der einen Seite und ich weiß sogar noch unsere Nummer: 105. Ich war zu klein, um an den Kasten dranzukommen, aber ich hörte immer fasziniert zu, wenn meine Mutter hineinsprach. Immer mal wieder hob sie mich hoch und ich konnte mit meinem Vater sprechen, der geschäftlich unterwegs war. Die reine Zauberei!
Eines Tages entdeckte ich, dass irgendwo in diesem kleinen Kasten eine ganz erstaunliche Person lebte - ihr Name war „Vermittlung bitte!“ und sie wusste einfach alles. Meine Mutter konnte nach jeder Telefonnummer der Welt fragen; sie wusste sie. Wenn unsere Uhr stehen blieb, konnte „Vermittlung bitte“ immer sofort sagen, was die richtige Uhrzeit war.
Meine erste persönliche Begegnung mit diesem „guten Geist im Telefon“ kam eines Tages, als meine Mutter bei Nachbarn zu Besuch war. Ich hatte mir beim Spielen mit Vaters Hammer auf den Finger gehauen und der Schmerz war einfach fürchterlich. Doch Weinen schien wenig Sinn zu haben, weil ja niemand zu Hause war, der mich hätte trösten können. Also wanderte ich ziellos im Haus herum und lutschte an meinem pochenden Finger. Schließlich fiel mein Blick auf das Telefon. Schnell holte ich mir einen Hocker und zerrte ihn unter den Zauberkasten. Dann kletterte ich hinauf, nahm den Hörer ab und sagte: „Vermittlung bitte!“
Es klickte zweimal und dann sagte eine klare Stimme direkt an meinem Ohr: „Vermittlung.“
„Ich hab mir wehgetan“, jammerte ich ins Telefon. Jetzt, wo ich einen Zuhörer hatte, flossen die Tränen wieder reichlich.
„Ist deine Mutter denn nicht zu Hause?“, kam die Frage.
„Nein, ich bin allein.“
„Blutet es?“ „Nein“, gab ich schluchzend zurück. „Ich hab mir mit dem Hammer auf den Finger gehauen und es tut sooho weh!“
„Habt ihr Eis im Haus?“, fragte die Stimme und ich bejahte. „Dann hol dir einen Würfel und halte ihn schön auf die Stelle, die wehtut. Und jetzt hör auf zu weinen, es tut gleich nicht mehr weh.“
Nach diesem Erlebnis rief ich „Vermittlung bitte!“ immer wieder an, wenn ich Hilfe brauchte. Sie sagte mir, wo Philadelphia lag und wo der Orinoco floss. Sie half mir bei den Mathematikaufgaben und sie konnte mir sogar sagen, was ich dem kleinen Eichhörnchen füttern sollte, das ich verletzt im Park gefunden hatte.
Und dann kam der Tag, an dem unser Kanarienvogel Petey starb. Ich rief „Vermittlung bitte!“ an und erzählte ihr die traurige Geschichte. Sie hörte mir zu und sagte dann all die üblichen Dinge, die Erwachsene in so einer Situation sagen. Doch ich war untröstlich. Warum musste ein Vogel, der so wunderschön singen konnte und der ganzen Familie Freude machte, als kleines Federbündel auf dem Käfigboden enden?
Sie musste meine tiefe Sorge gespürt haben, denn sie sagte ruhig: „Paul, denk immer daran, dass es noch eine andere Welt nach unserer gibt, in der man singen kann!“
Irgendwie fühlte ich mich danach besser.
An einem anderen Tag rief ich „Vermittlung bitte!“ an und fragte, wie man „reparieren“ buchstabiert.
Sie sagte es mir und in diesem Moment sprang mich meine Schwester von hinten, an, um mich mit einem gewaltigen Schrei zu erschrecken. Der Plan ging auf, ich fiel rückwärts von dem Hocker und riss dabei den Hörer aus der Wand. Wir erschraken beide zu Tode - „Vermittlung bitte!“ war fort und ich war nicht sicher, ob ich sie verletzt hatte, als ich den Hörer aus der Wand gerissen hatte.
Minuten später stand ein Mann vor unserer Tür. „Ich komme von der Telefongesellschaft. Ich hatte gerade in dieser Straße hier zu tun und die Vermittlung hat mir mitgeteilt, dass es hier ein Problem gibt.“ Er nahm mir den Hörer aus der Hand. „Was ist denn hier passiert?“
Ich erzählte es ihm.
„Na, das haben wir gleich!“ Er öffnete die hölzerne Box und brachte ein Wirrwarr aus Kabeln und Anschlüssen zum Vorschein. Dann fummelte er ein bisschen mit dem Ende des Hörerkabels herum, schraubte hier und da und kurz darauf funktionierte das Telefon wieder. Er drückte ein paar Mal auf die Gabel und sagte dann in den Hörer: „Hallo, Vermittlung? Hier ist Pete. Bei der 105 ist alles in Ordnung. Die Kinder hatten nur beim Spielen das Kabel aus der Wand gerissen.“
Er legte auf, grinste, tätschelte mir den Kopf und ging wieder.
Als ich neun Jahre alt war, zogen wir in eine andere Stadt, nach Boston. Meine freundliche Helferin fehlte mir schrecklich. „Vermittlung bitte!“ wohnte für mich in dem alten Holzkasten zu Hause und irgendwie kam es mir nie in den Sinn, das neue Telefon auszuprobieren, das nun auf einem Tischchen im Flur stand.
Auch in meinen Teenagerjahren dachte ich noch oft an die Zeiten zurück, in denen ich ein enormes Gefühl der Sicherheit empfunden hatte, weil ich jederzeit bei „Vermittlung bitte!“ anrufen konnte und eine hilfreiche Antwort bekam. Erst jetzt wurde mir klar, wie geduldig, verständnisvoll und lieb sie zu diesem kleinen, nervtötenden Jungen gewesen war, den sie nicht mal kannte.
Ein paar Jahre später war ich auf dem Weg ins College und kam ganz in der Nähe meiner alten Heimatstadt vorbei. Ohne richtig nachzudenken, hielt ich am nächstbesten Telefon und wählte die Nummer der Vermittlung in meinem alten Heimatort.
„Vermittlung bitte!“, sagte ich.
Wie durch ein Wunder hörte ich wieder die klare Stimme, die antwortete: „Vermittlung.“
Ich hatte das nicht geplant, doch dann hörte ich mich sagen: „Können Sie mir sagen, wie man ‚reparieren‘ buchstabiert?“
Es entstand eine lange Pause. Dann sagte sie leise: „Ich schätze, dein Finger ist inzwischen verheilt?“
Ich lachte. „Dann sind Sie es also wirklich! Ich habe mich oft gefragt, ob Sie eigentlich eine Ahnung hatten, was Sie für mich in all den Jahren bedeutet haben!“
„Und ich habe mich oft gefragt“, sagte sie, „ob du wohl weißt, was du mir bedeutet hast! Ich habe nie eigene Kinder gehabt und ich habe mich immer auf deine Anrufe gefreut. Dumm von mir, nicht wahr?“
Ich fand das gar nicht dumm, aber ich sagte nichts. Stattdessen erzählte ich ihr, wie oft ich an sie gedacht hatte und ob ich sie wieder anrufen dürfte, wenn ich in der Nähe war.
„Ja, bitte“, sagte sie. „Frag einfach nach Sally.“
„Auf Wiederhören, Sally!“ Irgendwie war es komisch, dass „Vermittlung bitte!“ jetzt einen anderen Namen hatte. „Und wenn ich auf ein Eichhörnchen stoßen sollte, weiß ich ja, was ich ihm füttern muss!“
„Ja“, sagte sie. „Auf Wiederhören.“
Drei Monate später war ich wieder in der Gegend und rief die Vermittlung an. Eine fremde Stimme antwortete und ich fragte nach Sally.
„Sind Sie ein Freund von ihr?“
„Ja“, sagte ich. „Ein alter Freund.“
„Da tut es mir sehr Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sally schon seit einiger Zeit schwer krank war. Sie ist vor fünf Wochen gestorben.“ Bevor ich auflegen konnte, fügte sie noch hinzu: „Warten Sie mal! Sagten Sie, Ihr Name sei Paul Villiard?“
„Ja.“
„Na ja, Sally hat eine Nachricht für Sie hinterlassen.“
„Was ist es denn?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich die Antwort schon kannte.
„Warten Sie, es steht auf einem Zettel. Ich lese es Ihnen vor: Richten Sie ihm aus, dass es eine andere Welt gibt, in der man singen kann. Er wird wissen, was ich meine!“
Ich dankte ihr und legte auf. Irgendwie fühlte ich mich getröstet

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