Dienstag, 27. August 2013

Ein Mörder Teil 1

INDIEN: Ein Mörder begegnet Jesus (I)

Als Noor Alam zum ersten Mal einen Menschen umbrachte, hatte er keine Ahnung, was das in ihm bewirken würde. Sein Opfer war ein Geschäftsmann, der bei einem Gangster in der Stadt Schulden hatte und sie nicht begleichen wollte. Stattdessen hatte er den Gangster sogar noch beleidigt – er erzählte anderen, dieser sei so blöd gewesen zu glauben, er würde das Geld zurückzahlen! Noor Alam war ein Krimineller und verdiente seinen Wochenlohn damit, die Schuldner des Gangsters zu bedrohen, zu verprügeln und zu foltern. Und nun sollte er also diesen Unternehmer umbringen. Eine Weigerung war undenkbar – nicht wegen der Zulage von hundert Prozent, es gab einen viel schwerwiegenderen Grund: Ein Nein hätte wahrscheinlich ihn das Leben gekostet.
Das Risiko war minimal. Die Polizisten hier in Bihar hatten Angst vor dem Gangster und mieden ihn sorgfältig. Sie waren sowieso zahnlose Tiger: Trotz all seiner Raubüberfälle und Einbrüche hatte Noor Alam nur sehr wenig Zeit im Gefängnis verbracht. Nie wurde ihm irgendeine Schuld nachgewiesen. Aber Mord? Das machte ihn nun doch etwas nervös. Er lud seine Pistole, legte sich einen Schlachtplan zurecht – und fasste Mut. Das war eben sein Job, schließlich verdiente er sich den Lebensunterhalt damit. Der Typ war ein Hindu, also ein Ungläubiger, und als solchen konnte er ihn durchaus umbringen.
Er dachte an seine Familie – alles Moslems – und an seine loyale Ehefrau, die ihn noch nie hinterfragt hatte und auch nicht wissen wollte, woher das Geld kam. Und er dachte an seinen Sohn Waqar. Er brauchte Geld für Waqars Bildung. Noor hatte vier Söhne gehabt, aber drei von ihnen waren krank geworden und gestorben. Das hatte sein Herz gebrochen und seinen Glauben infrage gestellt, aber schließlich war er als stärkerer Moslem daraus hervorgegangen. Es war Allahs Wille gewesen, dass Waqar überlebte, und Waqar war die Sonne in Noors Leben. Er liebte ihn so zärtlich wie niemanden sonst. Noor wollte ihn zur Koranschule schicken. Waqar sollte ein Kämpfer für Mohammed werden.

„Der Mann fiel auf seine Knie und winselte um Gnade.“

Noor Alam betrat den Laden des Schuldners und forderte Zahlung. Der Geschäftsmann betrachtete ihn von oben bis unten, mit einem schmallippigen, abfälligen Grinsen. Was hatte er von diesem schmächtigen Typen mit Glatze und Nickelbrille schon zu befürchten? Tatsächlich sah Noor viel eher wie ein Buchhalter aus und nicht wie ein Schuldeneintreiber. Der Unternehmer warf seinen Kopf zurück und reagierte mit brüllendem Gelächter. Nun zog Noor die Pistole. Der Geschäftsmann verstand und hörte sofort auf zu lachen. Keine Spur mehr von Arroganz – Noor konnte die nackte Angst in seinen Augen sehen und verstand: Jetzt konnte er mit ihm tun, was immer er wollte. Er hielt das Leben dieses Mannes in seiner Hand! Der fiel auf seine Knie und winselte um Gnade, aber Noor kannte keine Gnade. Berauscht von dem Gefühl der Macht, betätigte er den Abzug. Er fühlte sich unbesiegbar. Er war mächtig. Er war wie Gott.
Im Laufe der folgenden Jahre ermordete Noor Alam weitere sieben Männer. Er sah alle größeren Gefängnisse Bihars von innen, kam aber immer wieder frei. Nach jeder Entlassung wurde er zuversichtlicher in seiner Überzeugung, dass Allah mit ihm war. Als Kind war er klein und schwach gewesen; die anderen Jungen hatten sich einen Spaß daraus gemacht, ihn zu tyrannisieren und zu verprügeln. Sein Selbstwertgefühl sank auf null. Er zog sich zurück, verlegte sich zunächst auf kleine Diebstähle und schließlich auf Einbrüche und Raubüberfälle. Natürlich brauchte er das Geld, aber noch mehr brauchte er die Erfolgserlebnisse, und so wurde er in seiner kriminellen Laufbahn immer kühner. Er bedrohte seine Opfer mit dem Messer und raubte sie aus, er verprügelte sie und manchmal fügte er ihnen sogar dann noch Schnittwunden zu, wenn sie gerade das Geld übergaben. Seine Opfer zu töten, nein, soweit war er nicht gegangen, aber er hatte Spaß daran, sie zu verletzen. Das Gefühl der Überlegenheit in solchen Situationen verschaffte ihm große Befriedigung. Einmal folterte Noor Alam einen Mann stundenlang, nur weil dieser ihn beleidigt hatte. Er hatte fest beschlossen: Keiner würde ihn jemals wieder beleidigen! Der Unternehmer hatte ihn ausgelacht, und Noor hatte ihn umgebracht. Das hatte sein Selbstwertgefühl auf eine nie gekannte Ebene gehoben. Nun, nach sieben weiteren Morden, hatte er sich Respekt verschafft. Die Leute fürchteten ihn, und er hatte niemanden zu fürchten.

„Sein letztes Kind auch noch zu verlieren – nein, das konnte nicht sein. Das würde er nicht zulassen!“

Im November 2010 wurde Noor Alams Sohn Waqar krank, er bekam starke Magenschmerzen und bald auch Fieber. Noor und seine Frau beteten für ihn und gingen zur Moschee in Raxaul – sie wollten den Imam bitten, für Waqar zu beten. Aber in den folgenden Tagen ging es Waqar immer schlechter. Das Fieber stieg und Waqar nahm nichts zu sich. Noor litt sehr darunter, seinen Sohn so leiden zu sehen, und in seiner Verzweiflung suchte er weitere Hilfe – wo auch immer: Er ging sogar zum Hindupriester und scheute nicht die Kosten für einen Schamanen. Umsonst! Waqar ging es immer schlechter. So trug Noor ihn auf den Armen zu seinem alten Auto und brachte ihn in das dreißig Kilometer entfernte Krankenhaus von Duncan. Die Ärzte kümmerten sich sofort um Waqar, und Noor konnte schon während der Untersuchungen an ihren betroffenen Gesichtern ablesen, dass die Lage ernst war. Drei Stunden wartete er auf das Ende der Untersuchungen, dann durfte er sich auf die Bettkante seines Sohnes setzen.
Noor blickte auf seinen schlafenden Sohn, der sehr geschwächt und nur oberflächlich atmend reglos dalag. Waqar war totenblass, sah aus wie ein Geist, wie ein Toter. Aber nein, Noor weigerte sich, auch nur daran zu denken! Verzweifelt rang er die Hände und weinte. Drei Kinder hatte er schon verloren, das erste durch Typhus, das zweite an Tuberkulose und das dritte nach einem Schlangenbiss. Sein letztes Kind auch noch zu verlieren – und Waqar war erst zwölf –, nein, das konnte nicht sein. Das ließ er nicht zu!
Der Arzt kam, um nach Waqar zu schauen, und erklärte Noor, es wäre ein Parasit im fortgeschrittenen Stadium. Innere Blutungen. Sie könnten praktisch nichts mehr tun, und vielleicht müsse Waqar sterben. Noor starrte den Arzt an und weigerte sich, seinen Worten zu glauben: „Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen“, erwiderte er in ruhigem Ton. Der Arzt wich seinem Blick aus und antwortete schließlich so mitfühlend wie möglich: „Ich bin in ein paar Stunden wieder hier und schaue nach ihm.“

Quelle: NOOR ALAM, PETER HONE/JoelNews
Ausgabe: 16/2013

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